Um zu verstehen, was Sinnesschulung ist bzw. wie man seine Sinne gezielt schult, möchten wir einmal definieren und erklären, um welche Sinne es geht. Die fünf so genannten klassischen Sinne Riechen, Hören, Sehen, Schmecken und Tasten kennt jeder. Manchen unterstellt man den so genannten sechsten Sinn. Auch gibt es das geflügelte Wort: „Alle sieben Sinne beisammen haben“. In der Anthroposophie spricht man sogar von zwölf Sinnen. Es ist richtig, dass auch Empathie oder Sensibilität für Stimmungen, Energie oder Disharmonien zu Sinnen gezählt werden können. Und doch möchten wir an dieser Stelle „nur“ über die fünf klassischen Sinne sprechen, die wir mit unseren Organen Augen, Ohren, Nase, Zunge und Haut steuern.
Bei der Sinnesschulung geht es darum, mittels Übungen diese Sinne zu sensibilisieren für Wahrnehmungen, Gerüche, Gefühle etc. Sinnlich zu leben fällt vielen Menschen in unserer heutigen, schnellen, lauten, bunten Welt zunehmend schwerer. Und damit fällt auch ganz einfach das Genießen schwerer.
Wie wichtig sind die Sinne?
Vor lauter Stress und Hektik sind viele Menschen nicht mehr in der Lage, wirklich das zu schmecken, was sie essen. Zwar erkennen sie vielleicht noch, dass ihnen beispielsweise dunkle Schokolade besser schmeckt als weiße Schokolade, aber die Feinheiten – zum Beispiel die vielen Aromen einer einzelnen Schokoladensorte – „erleben“ sie nicht mehr. Ähnlich ist es mit Geräuschen, Düften, Farben und Formen: Welche mögen wir, welche nicht? Wo sollte man genauer hinhören? Wie riecht ein Wald? Kann man Töne sehen? Was tasten wir da eigentlich?
Selbst Kinder, deren Sinne an und für sich unverdorben sein sollten, sind zum Teil nicht mehr in der Lage zu erkennen, ob ein Brot frisch und knusprig oder zwei Tage alt ist. Die meisten haben keinen Bezug zur Natur und können den Geruch eines Pferdes nicht von dem einer Kuh unterscheiden.
Wohl mit aus diesem Grund ist heute für viele Achtsamkeit ein Thema. Sie möchten wieder in der Lage sein, uneingeschränkt, auch kleine Dinge, wahrnehmen und genießen zu können und so zur Ruhe zu kommen. Ein guter Anfang ist es, die Sinne zu schulen und zu sensibilisieren – wobei wir nicht den Weg der Achtsamkeitslehre gehen, die mit allen Sinnen gleichzeitig agiert, sondern der Euthymen Therapie nach Lutz folgen und also Sinn für Sinn vorgehen.
Wie schult man Sinne?
Es gibt eine Reihe von Übungen, die die Sinne schärfen und schulen – und die dir helfen, deine Umwelt detaillierter wahrzunehmen, Schönes und Angenehmes zu erkennen und zu genießen. Häufig handelt es sich dabei um wirklich einfache Maßnahmen, die du ohne große Vorbereitung oder Hilfe auch allein durchführen kannst. Im Folgenden möchten wir dir einige Übungen vorstellen:
Konzentration
Jede Übung beginnt mit der richtigen Einstellung. Konzentriere dich auf das, was du genießen möchtest und auf den Sinn, den du dafür in erster Linie benötigst. Versuche das, was dich dabei stören könnte, auszuschalten. Ist es ein Musikstück, das du besonders liebst? Oder ist es vielleicht das Rauschen des Windes in den Bäumen? Konzentriere dich auf das, was du hören möchtest. Schließe vielleicht auch deine Augen, damit das Geräusch, die Musik, der Klang das Wichtigste in dem Moment ist. Ebenso gehst du vor bei deinen anderen Sinnen. Möchtest du deinen Geschmack trainieren, konzentriere dich auf das eine Aroma, das eine Gericht, das eine Gewürz. Geht es um den Tastsinn, konzentriere dich auf deine Fingerspitzen oder deine Fußsohlen. Und so weiter.
Foto: © BDSI
Schmecken, die Zunge der Mund
Das Schmecken wird erst im Zusammenspiel von Zunge und Geruchssinn möglich und häufig auch durch das Auge beeinflusst. Es heißt nicht umsonst: „Das Auge isst mit.“ Dennoch erkennt deine Zunge auch ohne hinschauen fünf Geschmacksrichtungen: süß, sauer, salzig, herzhaft und sogar bitter. Dafür hat sie verschiedene Geschmackszonen, die die einzelnen Geschmacksempfindungen unterschiedlich wahrnehmen. So schmeckst du süß eher auf der Zungenspitze und bitter hinten auf der Zunge. Fairerweise muss man sagen, dass beim Kauen und durch das Hin-und-her-bewegen von Speisen im Mund, die Aromen auch flüchtig an die Nase weitergegeben werden. Und ohne die Nase geht nichts: Wenn du dir die Nase zuhältst, schmeckst du nur sehr wenig. Geschmack übst du, indem du eine Speise, eine Marzipanpraline, ein Stückchen Obst ganz bewusst kaust oder auf der Zunge zergehen lässt und dich dabei auf die Empfindungen einlässt. Was schmeckst du? Was spürst du? Wie fühlt sich das an, wenn sich ein Lebensmittel in deinem Mund verändert, z. B. wenn Eis auf der Zunge schmilzt? Verändert sich dadurch auch der Geschmack? Mache dir dieses Erlebnis bewusst. Nimm dir Zeit. Du wirst feststellen, dass dir diese Übung hilft, jedes Essen, jeden Keks zwischendurch, jeden Apfel, Nüsse oder Knabbereien wie Kartoffelchips mehr und intensiver zu genießen.
Riechen, die Nase
Was riechen angeht, sind wir wahre Meister: 10.000 Gerüche können wir unterscheiden – und uns an sie erinnern. Dabei haben wir bei einzelnen Gerüchen ganz verschiedene Empfindungen. Häufig reicht ein Hauch von einem Parfüm, um eine Person zu vermissen. Wer Kuhdung riecht, denkt automatisch an einen Bauernhof. Der Duft von frisch gebackenen Plätzchen erinnert vielleicht an deine Kindheit und das Backen zusammen mit deiner Oma. Tatsächlich ist es so, dass Geruchswahrnehmung direkt in unser Duftgedächtnis, das limbische System, geht. Binnen Bruchteilen einer Sekunde befindet man sich emotional an dem Ort, mit dem man diesen Duft verbindet. Deine Nase und deinen Geruchssinn kannst du bei einem Spaziergang trainieren. Gehe in den Wald und versuche, verschiedene Gerüche zu erschnuppern. Ein Baum riecht ganz anders als nasses Unterholz. Kannst du mit der Nase entdecken, ob in der Nähe Pilze wachsen oder ob vor kurzem noch Wild den Weg gekreuzt hat? Wie riechen die verschiedenen Pflanzen – in der Sonne, bei Regen, im Sommer, im Frühling? Einen ähnlichen Spaziergang kannst du auch durch die Stadt machen. Was riecht gut, was nicht so gut? Riecht es an einer Bäckerei anders, wenn du hungrig an ihr vorbeigehst? Suche bei deinen Spaziergängen ganz bewusst nach den Wohlgerüchen und den Düften, die deiner Nase „schmecken“!
Foto: © BDSI
Sehen, das Auge
Wusstest du, dass man Farbe spüren kann? Zumindest gibt es Maler, die wenig bis gar nichts sehen, und trotzdem ein Gespür dafür entwickelt haben, welche Farben sie verwenden und wie sie sie kombinieren können. An was denkst du bei Blau? Bei Rot? Bei Grün? Auch Farben können Emotionen und Erinnerungen wecken. Es gibt „Lieblingsfarben“ und solche, die man gar nicht mag. Gleiches gilt für Farbkombinationen. Was siehst du, wenn du dich auf etwas konzentrierst und etwas genau ansiehst? Probiere es aus: Egal, wo du bist, sieh nach vorne – nicht zur Seite! – und versuche dir einzuprägen, was du siehst. Welche Farben, welche Formen. Wenn du glaubst, dir alles genau gemerkt zu haben, schließe die Augen, und rufe das Gesehene vor deinem inneren Auge auf. Wenn du möchtest, kannst du dich selbst testen und beim Augenöffnen überprüfen, wie viel du dir gemerkt hast – und auf was du insbesondere dein Augenmerk richtest. Was gefällt dir dabei, was nicht? Nun lerne, über dein Auge zu genießen. Egal, wo du bist, schau dich um. Achte auf Farben. Achte auf Formen. Betrachte eine Farbe, eine Form, ein Bild, einen Baum, eine Blume oder eine Wolke auch einmal länger. Vielleicht erkennst du neue Farben und neue Formen darin. Sehen kannst du auch beim Essen und Genießen üben: Betrachte das, was auf deinem Teller liegt genau. Was glaubst du, wie es schmecken wird? Wie sehr beeinflusst dich eine Farbe, eine Konsistenz oder eine Form?
Foto: :relations, Frankfurt am Main
Tasten, die Haut
Dank der vielen Sinneszellen spüren wir mit unserer Haut unglaublich viel. Und da wir viel Haut haben, können wir an vielen Stellen etwas spüren. Dennoch nutzen wir meist unsere Fingerspitzen, wenn wir etwas ertasten oder erfühlen möchten. Doch was passiert eigentlich, wenn du mal mit der Handfläche spürst und ertastest? Teste es an verschiedenen Oberflächen wie Stein, Samt, rauem Putz, der Haut eines Pfirsichs, der Schale einer Banane, einer Walnuss, einer Brotkruste. Spürst du einen Unterschied zwischen den Berührungen mit Fingerspitze und Handfläche? Was ist mit deinem Handrücken? Trainiere auch den Tastsinn deiner Füße und versuche herauszufinden, was sie dir mitteilen. Gehe barfuß über verschiedene Oberflächen, über Sand, durch eine Pfütze, über Warm, über Kalt, durch Schlamm, über Nasses oder Trockenes und versuche deine Empfindungen bewusst wahrzunehmen.
Foto: © BDSI
Hören, das Ohr
Wie klingt Stille? Kannst du sie hören? Gibt es Geräusche, die du gerne hast und genießt? Sind das Geräusche aus der Natur, ist es Musik, sind das Stadtgeräusche? Wie klingt das Atmen von Menschen, die du liebst – und das von denen, die du nicht magst? Wie klingt der Schrei eines Vogels im Sommer und wie klingt er in einer schneebedeckten Landschaft? Übe hören, indem du dir selber zuhörst, wenn du genießt – wie klingt das Knacken einer Nuss? Wie klingt ein Keks? Eine Möhre, ein Stück Gurke, Kartoffel-Chips, ein Stück Obst? Du kannst deinen Hörsinn auch während eines Spaziergangs trainieren, indem du auf die Geräusche in der Natur hörst. Du kannst ihn aber auch zuhause beim Essen und Genießen, beim Musikhören oder Musizieren und sogar beim Einkaufen trainieren – dies übrigens auch gemeinsam mit anderen. Wo auch immer du Hören üben möchtest, nimm dir die Zeit zum Lauschen.
Sinnesschulung mit Kindern